Auf der Fahrt durch das Robson Valley sehe ich die Rocky Mountains am Horizont empor wachsen. Das Tal wird immer dünner und die Luft in meinem Hinterreifen auch. Es ist kurz vor der Dämmerung, als ein Auto vor mir verlangsamt, den Warnblinker einschaltet und eine Frau aussteigt. “Hallo, weisst du wo du heute Abend übernachtest?” Susan stellt sich kurz vor und erzählt von den Radtouren mit ihrem Mann. Sie beschreibt mir den Weg zu ihnen nach Hause und ich folge ihrer Wegbeschreibung. Zwanzig Kilometer und dreimal Pumpen später, stehe ich vor einer Blockhütte. Tim, ihr Ehemann, heisst mich willkommen. Beim Abendessen erzählt er mir, wie er als Fahrradmechaniker sein Studium finanzierte. Bei einem kleinen Glas Whiskey schaut er sich den platten Hinterreifen an. Nach geraumer Zeit findet er den verantwortlichen, feinen Draht. So können wir uns beruhigt den Geschichten über Radtouren und unserem Schlummertrunk widmen. Das Frühstück am nächsten Morgen ist reichhaltig und vor meiner Weiterreise spiele ich einige Runden UNO mit dem kleinen Aziz. Dann heisst es einmal mehr, “Safe Travels!”.

Die Gipfel zu meiner linken und rechten werden immer zerfurchter. Das Tal wird enger und es wird allmählich kühler. Ich wechsle in die leichteren Gänge und muss mich im Zaum halten, ob der Landschaft, nicht die ganze Zeit die Kamera zu zücken. Insbesondere als sich mir nach einer langgezogenen Kurve der majestätische Mount Robson zeigt. Es ist sein Gesicht mit den perfekten horizontalen Sedimentschichten, das mich fasziniert. Der höchste Gipfel der kanadischen Rocky Mountains flösst jedem Besucher dieser Region Respekt ein. An seinem Fusse erreiche ich die Touristen Information. Die Unmenge an Touristen, die sich hier drängeln, löst in mir Unbehagen aus. Den Plan in dieser Region wandern zu gehen überwerfe ich und verlasse mich auf mein Bauchgefühl. Mein Rad trägt mich entlang von malerischen Seen und vorbei an charakteristischen Felsformationen, wie dem “Sleeper Mountain”. Das Unbehagen bleibt.

Ich trotze der Kälte und werfe mich ins kalte Nass des Luzerner Sees. Ehhhm, heisst der nicht Vierwaldstättersee? Ah nein, es ist der See neben dem Lucerne Campground namens Yellowhead Lake. Die schneebedeckten Gipfel rundum haben mich geographisch etwas verwirrt. Es schläft sich umso besser nach dem Bad. Ich erwache und will den warmen Schlafsack nicht verlassen. Der Ausblick es bald nach Jasper zu schaffen, motiviert mich dann doch den Reissverschluss zu öffnen. Der Tau auf dem Zelt ist gefroren und so beeile ich mich um schnell aufs Rad zu kommen und mich durchs Pedalen aufzuwärmen.

Der Ort Jasper liegt im gleichnamigen National Park. In diesem zahlt man pro Nacht, welche man dort verbringt, eine Gebühr von zehn Dollar zu den ohnehin schon hohen Preisen für eine Übernachtung. An der Schranke in den Nationalpark sage ich, dass ich auf dem Weg nach Edmonton bin. “Oh, das ist ok, Sie dürfen passieren.” Ich bin auf den letzten Kilometern des Yellowhead Highway. Die Szenerie hat nun etwas von der Bergwelt aus der Heimat. Mein Verlangen nach Süssem führt mich zum einzigen Tim Horton im Ort. Dort kann ich mich nicht zurückhalten und verschlinge Donuts und Timbits in Massen.

Neben den leckeren und günstigen Süssigkeiten, spricht auch das verhältnismässig gute WiFi für diesen Ort. Ich aktiviere das WiFi auf meinem Telefon und der Eingang vieler Nachrichten lässt es für eine Weile vor sich hin vibrieren. Eine spezielle Nachricht aus dem Familienchat weckt viele Emotionen in mir. Ich verspüre riesige Freude, aber auch den Wunsch zu Hause zu sein. Schliesslich bin ich gerade zum ersten Mal Onkel geworden. Tja, zum Glück wird sich der kleine nicht an meine Abwesenheit erinnern. Und ich bin froh, dass ich es in Jasper erfahre. Eines Tages soll ich mit meinem Neffen hierher zurückkehren, damit er erfährt was ich erlebte, als er das Licht dieser Welt erblickte.

Mit all dieser positiven Energie mache ich mich daran einige Zeilen für meinen Blog zu schreiben. Am Tisch neben mir überhöre ich wie jemand von einem Trip nach Argentinien spricht. Natürlich spreche ich ihn darauf an. David erzählt mir von seinem Plan nach Argentinien und zurück zu trampen möglichst ohne einen Rappen auszugeben. Es ist inspirierend und weckt die Lust in mir auch einige Dinge in diese Richtung auszuprobieren. Sein neustes Projekt ist eine Webseite um Reisende auf Missstände in ihrer Umgebung aufmerksam zu machen: http://thetravelingactivist.com. Mit an seinem Tisch sitzt Bryce. Er ist ein Rider, reist also als blinder Passagier auf Güterzügen quer durch Nordamerika.

Der Typ hat so einige Geschichten auf Lager. Eine will ich euch nicht vorenthalten. Auf dem Weg nach Jasper soll es einen Tunnel geben, der sich wie eine Spirale durch den Fels hoch schraubt. Da die meisten Güterzüge in Kanada mit Dieselmotoren angetrieben werden und die Belüftung der Tunnel nur mangelhaft ist, füllen sich die Tunnel mit giftigen Abgasen. Im wissen um diese Umstände behilft sich Bryce mit einem sehr einfachen Mittel. Er nimmt einen Müllsack und füllt diesen vor der Einfahrt in den Tunnel mit frischer Luft. Im Tunnel atmet er die Luft aus dem Sack.

Den Rest des Tages schreibe ich an meinem Blog und treffe mich später wieder mit den Beiden. Sie zeigen mir einen geeigneten Schlafplatz für die Nacht zwischen Autobahn und Fluss. Am Lagerfeuer erzählt jeder seine Geschichte, die ihn nach Jasper führte. Da wildes Campieren im Nationalpark verboten ist, fühle ich mich die ganze Nacht sehr unwohl. Dementsprechend schlecht ist mein Schlaf. Der Gedanke, ein Problem mit einem Ranger zu haben, scheint für mich einiges schlimmer, als einem Wildtier zu begegnen. Ich finde es erschreckend, dass die sozialen Strukturen, Regeln und Gesetze mehr Macht über meine Gedanken haben als die Wildnis. Ich stehe früh auf und packe meine sieben Sachen. Immerhin sehe ich so, wie die Sonne sich über die Bergkante erhebt und schiesse einige schöne Bilder in den frühen Morgenstunden.

Der Tag steht ganz im Zeichen des Interviews mit 20 Minuten. Ich habe am Vortag die Fragen per Email erhalten und unterschätze, den Aufwand nicht zu knapp. Bei Donuts und Kaffee drehe und wende ich meine Antworten für einige Stunden. Die Sonne lacht und so überwinde ich mein Streben nach Perfektion zu überwinden. Ich erkunde den Ort auf einem Spaziergang und gebe meinem inneren Drang nach, einen offiziellen Campingplatz für die Nacht zu suchen. Es juckt mich zwar dreissig Dollar für einen Zeltplatz zu bezahlen, aber für eine Nacht guten Schlaf muss es mir das Wert sein. Immerhin ist in diesem Preis das Duschen inklusive und die Wäsche mache ich diesmal von Hand. Am Abend führe ich die Tradition fort lokale Biere zu verköstigen und besuche die Jasper Brewing Company. Im Fernsehen läuft Baseball. Überrascht stelle ich fest, dass es auch kanadische Teams in der Major League Baseball gibt. Und wie es scheint zur Zeit sehr erfolgreich, die Toronto Blue Jays gewinnen das Spiel überlegen.

Entsprechend meinem Schlafmangel der Nacht zuvor, schlafe ich tief, fest und lange. Die Dauer um ein Interview auszufüllen, die Bilder dafür bereit zu stellen und auch noch einen Blogbeitrag zu schreiben ist massiv. Es nervt mich etwas diese Zeit aufzuwenden, während die Sonne scheint. Naja, ich habe einfach zu viel Glück mit dem Wetter. Dieses “Wetterglück” hat aber unschöne Folgen für andere. Rauchschwaden ziehen in Jasper ein. Online prüfe ich, wo die Waldbrände toben. Ich staune nicht schlecht, als ich lese, dass die verantwortlichen Flammen mehr als 600 Kilometer entfernt lodern. Vor dem Tim Hortons mache ich zwei Tourenfahrräder aus. Drinnen lerne ich zwei Japaner kennen. Sie haben sich in Alaska getroffen und sind seither gemeinsam unterwegs. Yasu verfolgt den gleichen Traum wie ich. Der jüngere wird von Vancouver nach Hause fliegen, da seine finanziellen Mittel erschöpft sind. Wir befreunden uns auf Facebook und tauschen uns noch etwas aus, bevor ich mich aufmache.

Früh morgens verlasse ich Jasper auf dem Icefield Parkway Richtung Süden. Ausnahmslos alle, die ich kenne und schon hier waren, benutzten in ihren Erzählungen viele Superlative. Es gelingt mir nicht die vielen Lobgesänge auf diese Region in ein Bild vor meinem geistigen Auge zu übersetzen. Es ist leider kein Nebel, der die Weitsicht trübt, nach wie vor hangen Rauchschwaden im ganzen Tal. Auf den ersten Kilometern entscheide ich mich für einen Wanderpfad entlang des Flusses. Der Grund dafür ist eine weitere Gebührenstation auf der Autobahn. Abgesehen von einer Böschung, welche ich mein Fahrrad hoch stossen muss, ist der Pfad ganz gut befahrbar. Irgendwann wird es mir dann doch zu holprig und nehme den nächstmöglichen Trampelpfad zurück auf die Strasse. Ach, wie dumm, die Mautstation liegt etwa 200 Meter hinter mir. Unbehelligt setze ich meine Reise in den Süden fort. Die Berge sind in einen mystischen Schleier gehüllt, welches vorerst nicht weiter stört.

Den ersten Abstecher von der direkten Route mache ich zu den Athabasca Falls. Der Wasserfall ist der erste seinesgleichen, der auch diesen Namen verdient. Dementsprechend überfüllt ist der riesige Parkplatz. Ich stelle das Fahrrad nahe am Wasserfall ab, um es möglichst im Auge behalten zu können. Als ich zu einer Aussichtsplattform auf der anderen Seite marschieren will, höre ich jemanden auf schweizerdeutsch sagen. “Ah lueg, es isch doch dr Urs.” (Sieh, es ist eben doch Urs) Eva und Pascal stehen vor mir und ich bin sprachlos. Die zwei waren meine Mitfahrgelegenheit von Haines Junction nach Whitehorse, als ich Ersatz für meinen sich auflösenden Schwalbe Marathon Reifen brauchte. Wir plaudern eine ganze Weile, bevor sich Yasu zu uns gesellte. Natürlich musste Zeit für ein Erinnerungsphoto sein. (@Eva + Pascal: Falls ihr dies liest, schickt mir doch das Photo zu, Danke.) Einige Schnappsschüsse vom Wasserfall will ich dann doch noch machen, bevor es weitergeht.

Es dauert nicht lange bis ich zu Yasu aufgeschlossen habe. Er ist einiges schwerer beladen als ich. Er hat fast die gleichen Gepäcktaschen, bloss die grössere Lenkertasche, das grössere Rackpack und obendrein schleppt er eine grosse Ikeatasche mit sich herum. Die eine Tasche soll voll mit Lebensmittel aus seiner Heimat sein. Kaum zu glauben, dass er diese Extrakilos seit Anchorage mitschleppt. Die Strasse steigt stetig leicht an, während er sich abstrampelt kann ich relativ locker nebenher fahren. Bei einer kurzen Rast kommt uns ein deutlich leichter bepackter Radler entgegen. Es ist Alex aus Österreich und wir lassen uns mit einigen Tipps helfen, denn er ist vor drei Jahren in Ushuaia gestartet. Also jenem Ort, den Yasu und ich jeweils für unsere Reisen als Zielort ausgewählt haben. Leider ist Alex etwas spät dran und es dürfte sehr schwierig werden die arktische See zu erreichen. Wir wünschen einander viel Glück und werden die Abenteuer des andern sicher weiterverfolgen. Es ist nicht verwunderlich, dass Yasu deutlich vor mir sein Lager aufschlagen will. Mit seiner Last würde ich den Aufstieg zum Columbia Icefield auch auf den nächsten Tag verschieben.

Die Strasse verläuft entlang der linken Talseite. Der Aussicht auf die Felslandschaft fehlen jegliche Ecken und Kanten. Leider sind nur die Umrisse der Gipfel auf der anderen Talseite zu sehen. Mein Radcomputer zeigt 90 Kilometer an, als meine Beine immer schwerer werden. Dann endlich erreiche ich die Einfahrt zum Skywalk, der neusten unsinnigen Attraktion des Jasper Nationalpark. Ich traue meinen Augen nicht, wie die Touristen mit den Bussen zum Eingang transportiert werden. Dort werden sie wie Vieh durch abgesperrte Kanäle geleitet um dann einige Meter auf einer Brücke mit Glasboden zu spazieren. Am Ausgang wartet dann schon wieder der Bus (mit WiFi Hotspot), um Sie zum nächsten “Highlight” ihres Trips zu chauffieren. Es kommt mir vor wie eine automatische Melkstation, bloss werden hier die Touristen für ihr Geld gemolken.

Es folgt eine kurze Abfahrt in ein weit offenes Tal. Von weitem sehe ich den Gipfel von Mount Athabasca und das ewige Eis, das ihn umgibt. Die Landschaft scheint unreal, wie ein Gemälde in einem Museum. Das Eisfeld und der Gipfel scheint einfach nicht näher zu kommen, obwohl ich kräftig in die Pedale trete. Dies macht das Erlebnis und die Landschaft umso imposanter. Mit meiner Ankunft geht die Sonne hinter der Bergkette zu meiner rechten unter. Der Mond geht gerade hinter dem Mount Athabasca auf und leuchtet mystisch durch den lichtenden Rauch. Meine Erschöpfung entspricht den hundert Kilometern und tausend Höhenmeter, welche meine Beine gestrampelt sind. Am Fusse des Eisfeldes geniesse ich die Ruhe mindestens genauso wie die Aussicht. Mein träumerischer Blick wandert den Felsen entlang während der Himmel im Hintergrund von einem hellblau ins lila wechselt. Ein Zeltplatz liegt nur einige hundert Meter weiter. Mit den letzten Energiereserven schaffe ich es den Hügel hoch. Ich muss etwas verloren dreinschauen, denn ein Paar Mitte vierzig ruft mich zu sich und meint, dass sie im VW Bus schlafen. Ich soll mein Zelt einfach auf ihren Platz stellen. Patricia und Frank bieten mir Wein und Bier an, während meine Pasta am kochen ist. Es fällt mir schwer abzulehnen, doch die Vernunft siegt um die Regeneration nicht zu verlangsamen.

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