Der Morgen nach dem Konzert beginnt relativ früh. Alle Konzertgänger scheinen es sehr eilig zu haben. Unsere Runde quatscht noch ein wenig, während die Meisten schon gepackt haben und aufbrechen. Paula und Robbie laden mich ein bei Ihnen in Seattle vorbei zu schauen. Dies passt natürlich hervorragend, da dies meine nächste Station ist. Es wird immer etwas leichter von den meisten Leuten Abschied zu nehmen. Auf so einer Reise bleibt einem auch keine andere Wahl. Man muss akzeptieren, dass man die meisten neuen, freundschaftlichen Bekanntschaften nie mehr wieder sieht. Nach einer Reihe von Umarmungen ziehe ich von Dannen. Erst jetzt bemerke ich den Grund für das frühe Aufbrechen der meisten Konzertgänger, es ist der erste Spieltag der NFL. Unnötig zu sagen, dass in Washington aktuell keine andere Sportart annähernd viel Beachtung kriegt. Hat der langjährige Underdog, die Seattle Seahawks, zuletzt zwei Mal hintereinander den Super Bowl erreicht und einmal sogar gewonnen. “Go Seahawks!”

Auf dem Weg Richtung Seattle gilt es in den nächsten Tagen ein Bergmassiv und eine Distanz von etwa 500 Kilometer zu überwinden. Die ersten Kilometer sind erstaunlich leicht und schnell hinter mich gebracht. In einem Ort versuche ich eine Sportbar zu finden, um mir das Spiel der Seahawks anzuschauen. Doch meine Suche ist erfolglos und so mache ich mich auf die Weiterreise. Als ich den Ort hinter mir lasse, sehe ich das wahre Ausmass der Columbia Schlucht, die dem Amphitheater den Namen gab. Ich halte für einige Minuten, um die Landschaft auf mich wirken zu lassen. An diesem Tag fahre ich erneut entlang des Flusses, welcher hier von Apfelplantagen gesäumt ist. Zwischendurch entdecke ich riesige Strommasten, welche die elektrische Energie vom Grand Coulee Dam übers Land verteilen. Am Abend halte ich in Wenatchee. Die Tafeln am Ortseingang preisen die Stadt als Apfelhauptstadt von Nordamerika an. In der Stadt selbst sieht man wenig bis nichts davon. Sie liegt im Tal und ist durch den Fluss zwei geteilt. Mächtige Brücken prägen das Ortsbild. Der günstige Zeltplatz ist offiziell geschlossen. Dieser beherbergt aufgrund der Waldbrände evakuierte Personen und unzählige freiwillige Helfer, welche den Kampf gegen die Flammen unterstützen. Im teuren Confluence Park nebenan stelle ich mich dumm. Bei den Tarifen wird hier kein Unterschied zwischen einem riesigen Reisebus oder ein Fahrrad gemacht. So bezahle ich den Tagestarif und stelle mein Zelt im Dunkeln auf.

Ich schlafe tief und fest bis mich die Sonne weckt. Der Morgen ist schnell vorbei, da es Zeit ist meine Wäsche zu machen und einzukaufen. Auf dem Weg aus dem Ort fahre ich an “The Godfather’s Pizza” vorbei. Nun, eben nicht vorbei, denn ihr Mittagsangebot ist wie gemacht für mich. Für neun Dollar gibt es ein Salat- und Pizzabuffet inklusive Getränken. Es ist ein Wunder, dass ich nicht kugelrund aus dem Laden heraus rolle. Die Pizzen waren ok, aber das Salatbuffet hat echt überzeugt.

Am Stadtrand entdecke ich eine Kombination an Läden, wie es sie wohl nur in den USA gibt. Ein Spirituosenladen, ein Marijuanaladen und eine Kraftfahrzeugzulassungsstelle, alles unter demselben Dach. Es wird Zeit die Route auf meiner Karte mal nachzuschauen. Als ich auf der Karte Leavenworth lese, habe ich ein Bild eines riesigen Gefängnis vor Augen. Das Leavenworth in Washington ist jedoch eine gelungene amerikanisierte Imitation eines "Bavarian" Bergdorfs. Sogar die grossen Ketten wie das goldene M und der mittlerweile grösste Milchhändler der Welt haben ihre Corporate Designs angepasst um das Ortsbild zu unterstützen. Die Strassenschilder sind meist zweisprachig in Englisch und Deutsch. Nach einem entspannten Spaziergang durch den Ort, bin ich etwas erstaunt, dass auf einmal Englisch gesprochen wird. Doch jetzt will ich es wirklich wissen und teste die Küche. Ich bestelle ein Jägerschnitzel mit Spätzle und ein Hefe-Weizen. Gespannt warte ich auf meinen Teller. Das Hefe-Weizen ist aus, so muss ich mich mit einem Paulaner begnügen. Naja, alles zusammen würde zu Hause als mangelhaft beschrieben. Da man hier jedoch kaum denselben Massstab ansetzen darf, gebe ich ein gutes Genügend.

Es ist die Landschaft, welche richtig beeindruckt nicht unbedingt der Ort. Die Felswände steigen zu beiden Seiten empor und lassen mich erahnen, was bevor steht. Die Kilometerzahl auf meinem Radcomputer will einfach nicht steigen. Es geht sehr zäh voran. Die Steigung ist nich heftig, aber sie dauert an und ich will meine Energiereserven nicht zu früh anzapfen. Es ist ein herrlicher Tag und nicht zu warm für diese anstrengende Passage. So arbeite ich mich gemütlich aber stetig auf den Pass hoch. Oben auf dem Kulminationspunkt des Stevenspass markiert ein Schild, den Strassenübergang für die Wanderer auf dem Pacific Crest Trail. Ich mache nur eine kurze Trinkpause und prompt kommen mir zwei mit Sack und Pack entgegen. Micky und Agnes sind beide schon mehrere Monate auf dem Trail. Es ist Micky’s zwanzigster Geburtstag, wir verabreden uns im nächsten Ort um darauf anzustossen. Skykomish ist etwas mehr als 25 Kilometer entfernt. Die Dämmerung hat schon eingesetzt. Die Beiden fahren per Anhalter, so muss ich mich ranhalten, um es zur Party zu schaffen. Es ist eine Wahnsinnsabfahrt. Die engen Spitzkehren verlangen höchste Konzentration. Für klare Sicht wisch ich mir regelmässig die tränenden Augen trocken. An den Fingerkuppen spüre ich am stärksten, dass die Temperatur mit fortschreitender Uhrzeit immer weiter fällt. So zaghaft es heute den ganzen Tag lief, so rasant fliege ich jetzt Richtung Skykomish. Es ist nicht mehr weit, doch die Dunkelheit ist nervenaufreibend, denn hinzu kommt, dass die Strasse keinen Rad- oder Pannenstreifen hat.

Bei der Einfahrt in den Ort ist nichts zu sehen von einem Restaurant oder einer Bar. Alle Geschäfte entlang der Strasse sind dunkel und geschlossen. Der Tankstellenmitarbeiter ist so hilfreich, wie eine Strassenlampe mit defekter Birne. Doch so schnell gebe ich nicht auf. Ein Stück weiter führt mich eine Brücke über einen Fluss. Ich entdecke zwei oder drei Häuser mit Licht. Das eine ist die “Whistling Post”, eine Bar mit bescheidenem doch nicht minder geschätztem Essen im Angebot. Agnes sitzt über einem Teller und winkt mich rein. Bei einem Bier tauschen wir unsere Reisegeschichten aus. Es ist echt erfrischend für einmal nicht den üblichen Radtouren-Smalltalk zu führen. Einige Minuten vergehen ehe Micky mit drei weiteren Wanderern zur Tür hereinkommt. Ich kenne die drei nur bei ihren Trail-Namen: Wildman, K und Thunder. Allesamt scheinen sie schon gut bei Laune zu sein. Micky hat sichtlich schon einen über den Durst getrunken, doch der Abend hat erst begonnen. Zwischendurch verdrücke ich einen Sloppy Joe, um die spendierten Biere zu verkraften. Diese Fussreisenden können richtig einen drauf machen, Hut ab. Schliesslich sind sie teilweise ein oder zwei Wochen weg von jeder Zivilisation. Für Micky ist sein Geburtstag schon einige Zeit vor Mitternacht zu Ende und zwei seiner Wanderkollegen, welche ihm fleissig Bier spendierten, kümmern sich nun doch sehr verantwortungsvoll um ihn. Die Nacht verbringe ich auf dem Fussboden eines Doppelzimmers im Hotel nebenan. Für die Trailwanderer ist die Standardbelegung eines Doppelzimmers deutlich mehr als zwei Personen.

Zum Glück habe ich beim Trinken nicht mit meiner Partygesellschaft mitgehalten, denn sonst würde mir der Start gewiss nicht so leicht fallen. Die malerischen Berge rund um Skykomish weichen etwas kleineren Hügel bis ich ins küstennahe Flachland komme. Es geht meist leicht bergab, sodass ich entspannt mit knapp 30 Stundenkilometer unterwegs bin. In Gold Bar, einem der vielen schrumpfenden Orte mitten im Nirgendwo, steht ein Espressohäuschen neben der Strasse. Der dreifache Espresso schmeckt lecker und bringt meine Pumpe zusätzlich auf Fahrt. Das Navigieren ist für den grössten Teil der Strecke sehr einfach. In Monroe zögere ich dabei auf den Freeway zu fahren und prüfe im freien Internetzugang des Kaffees nebenan, ob dies überhaupt erlaubt ist. Offensichtlich ist es erlaubt, solange es keine halbwegs vernünftige Alternativstrasse für Radfahrer gibt. Also los geht die Fahrt neben dem vier- bis sechsspurig geführten Verkehr. Es ist noch eine ordentliche Distanz bis Seattle, doch ich sollte es vor Sonnenuntergang schaffen. Die Strecke ist wahrlich kein Highlight. Kaum zwanzig Minuten unterwegs werde ich zur Zielscheibe für einen Lenker eines blauen Sportwagens. Aus dem Augenwinkel sehe ich den weissen Getränkebecher auf mich zu fliegen. Zum Glück ist zielen nicht die grösste Stärke dieses Automobilisten. Gut zehn Meter vor mir klatscht der mit bräunlicher Flüssigkeit gefüllte Trinkbecher auf den Asphalt. Ich bin kurz schockiert, ob dieses Ereignisses. Nur wenige Meter weiter lässt mich ein Schild mit der Aufschrift “Don’t drink and drive” schmunzeln.

Mein Rhythmus wird leider schon wieder gestört, diesmal ist es mein Fahrrad das sich komisch anfühlt. In einer leichten Abfahrt beginnt es ganz schön zu eiern. Dies fühlt sich mit voller Ladung nicht gut an. Als ich zum Stehen komme, hat der Hinterreifen gerade noch genug Luft, damit ich nicht auf der Felge fahre. Der Platten ist schnell geflickt. Doch beim Drehen des Rades fällt mir ein klimpern auf. So demontiere ich erneut das Rad. Leicht genervt, da ich den Zeitdruck verspür pünktlich bei Robbie und Paula einzufallen. Die Felge scheint äusserlich in Ordnung zu sein. Das Klimpern kommt allerdings ganz klar von der Felge. Beim Abziehen des Felgenbandes bietet sich mir ein Anblick des Schreckens. Ein Riss folgt dem Umfang der ganzen Felge. An einigen Stellen sind Teile komplett rausgebrochen. Es ist eine Tüftelei um all die Teile herauszukriegen. Ich wäge meine Optionen ab und entscheide mich mit dem Rad die restlichen rund vierzig Kilometer zu radeln. Das Rad eiert zwar nicht mehr so, doch ich fahre wie auf Eier sitzend. Der letzte Abschnitt über den Burke Gilman Trail ist eine Nervenprobe. Der schöne Radweg ist aufgrund der Wurzeln ziemlich holprig. Meine Erleichterung ist gross als ich meine tapfere Soletta an die Mauer meiner Unterkunft lehne. Paula und Robbie wohnen in einem Appartment im Capitol Hill Viertel. Durch die Strassenschlucht sehe ich das Wahrzeichen von Seattle, die Space Needle. Das Willkommen ist herzlich. Im Flur finden wir Platz für meinen lädierten Drahtesel. Schnell versinken wir auf dem Sofa in den Geschichten, welche sich schon nur in den letzten vier Tagen ereignet haben. Robbie zaubert in der Küche eine Wurst-/ Käseplatte und so vergeht der Abend wie im Flug.

Seattle hat einiges zu bieten. Von den historischen Vierteln über die Gebäude der Weltausstellung 1962 zu den modernen Finanz- und Geschäftszentren gibt es vieles zu bestaunen. Ich verbringe jedoch die Morgenstunden meines Aufenthalts bei REI. Dies in erster Linie um eine Lösung für meine zerstörte Hinterfelge zu finden. Dann gönn ich meiner spriessenden Gesichtsbehaarung etwas Pflege beim Barbershop um die Ecke. So ist der Tag schon fast vorbei. Mit Paula und Robbie geht es ins japanische Restaurant zum Abendessen. Ihre Wohnung scheint wirklich ideal gelegen, alles nötige ist zu Fuss einfach zu erreichen. Den Schlummertrunk holen wir uns in der Pine Box ab. Dort haben Sie fünfzig meist lokale Biere vom Fass im Angebot. Doch es ist das “Big Ass Chocolate Chunk Cookie”, welches mir auf der Karte ins Auge sticht. Natürlich kann ich nicht widerstehen und suche mir ein passendes Stout dazu aus. Ist das Leben nicht schön?! Dann kann ich mich mit einem wohligen Gefühl ins Bett legen und einschlafen.

Das Programm für den zweiten Tag ist vollbepackt mit Sehenswürdigkeiten und so spule ich viele Kilometer zu Fuss ab. Vorbei an der Space Needle zu phantasiereichen Skulpturen in den Parks entlang der See schlendere ich mit staunenden Augen. Dann zücke ich meine Kamera um meine Eindrücke auf dem bekannten Markt und dem historischen Pioneer Square einzufangen. Ein wahrer Höhepunkt ist die Aussicht vom Columbia Center. Die 360 Grad Aussicht zeigt die Dimension dieser Metropole, welche so bekannte Firmen wie Microsoft, Starbucks oder Amazon beheimatet. Nach einem langen Tag auf den Füssen jage ich noch den Zutaten für das Abendessen nach ehe ich Paula und Robbie’s Küche in ein kleines Schlachtfeld verwandle. Der Lachs auf einem Quinoa-Bett schmeckt meinen Gastgebern zum Glück genauso wie der passende Weisswein. Wir sind etwas unentschlossen ob es diese Samstagnacht noch irgendwo hingeht. Paula lädt Paul, welcher auch am Foo Fighters Konzert war noch auf ein Bier ein. Schliesslich könnte dieser noch eine gute Idee für einen Klub oder Party haben. So kommts, wie es kommen musste. Der Abend bei Paula und Robbie zu Hause wird so gemütlich und die Verköstigung der unterschiedlichsten Biere so genüsslich, dass wir keinen Fuss mehr vor die Tür kriegen.

Am Sonntagmorgen kann ich endlich mein Rad abholen. Die mittlerweile schier endlose Auswahl an Komponenten für Räder hatte zur Folge, dass ich nicht einfach ein neues Hinterrad kaufen konnte. Ich hatte die Auswahl an drei Felgen. Mein Favorit wurde zusammen mit meiner bisherigen Nabe zu einem neuen Hinterrad verbaut. Die Bemerkungen, dass die Antriebsteile nur noch als Altmetall dienen kontere ich und erkläre meine Absicht damit mindestens noch bis nach San Francisco zu kommen. Der Ausdruck in den Gesichtern der zwei Fahrradmechaniker verrät wie übel es um die Komponenten wirklich steht. Naja, zum Glück bin ich nicht mehr auf dem Dempster Highway unterwegs. So werde ich im Fall einer Panne innerhalb von wenigen Kilometern Hilfe finden.

Die gepackten Radtaschen stehen neben meinem flott gemachten, tapferen Stahlross. Ich werde passend zu den entspannten Tagen in Seattle von Robbie und Paula zum Brunch eingeladen. Es sind diese wundervollen Begegnungen, welche eine Reise wie diese ausmachen. Kaum zu glauben, dass ich diese zwei herzlichen Persönlichkeiten weniger als eine Woche kenne. Danke! Es fällt mir nicht leicht diese heimelige Atmosphäre wenig später gegen die Einsamkeit der Strassen vor mir zu tauschen. Entsprechend wehmütig schaue ich immer wieder über meine Schultern, während die Skyline von Seattle hinter mir stets kleiner wird. Die Strassen führen mich Richtung Norden. Eigentlich ist es die falsche Richtung, denn der Winter kommt. Ich will jedoch meine Schutzbleche in Vancouver abholen und weitere wundervolle Personen treffen.

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