Die Fahrt vom Fährterminal in die Stadt hinein ist ein Erlebnis, welches mir durch Mark und Bein geht. Nach dem entspannten Radeln auf Orcas Island, bin ich nun auf einer sechsspurigen Strasse unterwegs. Ein Kontrast, wie er grösser kaum sein könnte. Keinen Meter neben meinem Kopf sausen die Rückspiegel von riesigen Wohnmobilen, die Räder von Sattelschlepper und Boote auf Anhängern vorbei. Mein Stresspegel steigt, was kein schlechtes Symptom ist. So bin ich mit höchster Aufmerksamkeit auf der Strasse unterwegs. Leider gibt es für Radfahrer keinen direkten Weg nach Downtown Vancouver. Ich nehme einen Umweg von dreissig Kilometer in kauf, da ich nicht auf einen Bus ausweichen will. Immerhin die zweite Hälfte des Weges ist einiges ruhiger entlang eines Kanals. Auf diesem schwimmen Felder von Baumstämmen, deren Grösse und Anzahl mich staunen lässt. Die letzten Kilometer führen mich zuerst durch Industrie-, dann durch Wohn- und zuletzt durch umtriebige Geschäftsviertel.

Viele Freunde haben mir schon vor Antritt meines Abenteuers von Vancouver vorgeschwärmt. Meine Erwartungen sind dementsprechend gross. Ohne Schwierigkeiten finde ich den Weg zu meinem Gastgeber. Frederik, den ich in Nelson BC kennenlernte, hat mir ein Gästezimmer angeboten. Er ist ursprünglich aus Deutschland und kämpft gerade etwas mit den bürokratischen Hürden, um ein neues Arbeitsvisum zu erhalten. Die Anreise für mich war lange. Seit den frühen Morgenstunden bin ich unterwegs und dementsprechend müde bin ich. Eine Dusche weckt mich wieder und so werde ich etwas gesprächiger. Beim Abendessen und ein oder zwei Bieren, unterhalten wir uns über die lokalen Brauereien und das Leben in Vancouver. Doch dann überkommt mich die Müdigkeit definitiv. Dank der unglaublichen Gastfreundschaft, die ich vielenorts schon geniessen durfte, endet einmal mehr ein Tag in einem bequemen Bett.

Der nächste Tag startet sehr gemächlich. Ich geniesse es für einmal nicht allzu viel zu machen. Frederik lädt mich ein, am Abend zu einer Toastmaster Veranstaltung mitzugehen. Toastmasters ist ein internationaler Verein, welcher sich dem gepflegten Reden schwingen und Präsentieren verschrieben hat. Der Abend verläuft streng nach Protokoll. Es wird sich ordentlich vorgestellt, Hände geschüttelt und viel applaudiert. Einige Mitglieder hatten früher einige Mühe vor Leuten zu stehen und zu referieren, wie mir die Redner später persönlich verraten. Ihre vorgetragenen Phantasie-Geschichten sind überzeugend detailreich und ihre gehaltenen Reden amüsant pointiert. Es ist ein gelungener Abend und ich werde ernsthaft in Erwägung ziehen mich nach der Reise einer Toastmasters-Gruppe anzuschliessen.

Nach einem Tag Erholung wird es Zeit die Grossstadt zu erkunden. Unweit von Frederik’s Wohnung ist Granville Island. Dort schlendere ich mit einem Kaffee “to-go” durch die Markthallen. Vorbei an frischen Meeresfrüchten, lokalen und exotischen Köstlichkeiten, bis mich der Duft von warmen Croissants zum Verzehr jener verführt. Mein Spaziergang führt mich weiter durch das Athletendorf der olympischen Winterspiele von 2010. Ein Blick über den False Creek und ich entdecke die Rogers Arena. Die Heimarena der Vancouver Canucks war damals Schauplatz des hochdramatischen Gruppenspiels Kanada gegen die Schweiz. Welches wir damals leider im Shootout verloren. In mir kommt der Drang auf ein Hockeyspiel zu sehen. Doch zuerst muss ich mich um dringenderes kümmern. Meine Schutzbleche warten darauf abgeholt zu werden. Etwas ausserhalb in einem Shoppingcenter treffe ich meinen Held des Tages. Nach nur zwei Wochen Abenteuer hatte ich eine Kiste mit überflüssigem Material an Dan gesandt. Er arbeitet am Flughafen von Vancouver als Sicherheitsbeamter und hatte bei meiner Einreise mein Fahrrad inspiziert. Seither war er einer meiner treusten Leser und hat später das Paket für mich aufbewahrt. Es ist ein freudiges Wiedersehen. Obwohl unsere erste Begegnung nur wenige Minuten dauerte, verstehen wir uns auf Anhieb wieder wie alte Freunde. Es ist etwas besonderes, da Dan die erste von vielen speziellen Bekanntschaften auf meinem Abenteuer ist. Leider muss er wenig später zur Arbeit. Zum Abschied reicht er mir eine gut gefüllte Tüte voller Beef Jerky und Jelly Beans.

Am Nachmittag trotte ich durch Chinatown und Gastown. Die alten Gebäude zeugen von der industriellen Vergangenheit dieser Viertel. Im Chinese Garden verweile ich und mache den einen oder anderen Schnappschuss. Am späten Nachmittag treffe ich Frederik und Jeremy, seinen Arbeitskollegen, auf ein Feierabendbier. Jeremy ist ein sehr passionierter Radfahrer und fragt nach den spannendsten Geschichten meines noch jungen Abenteuers. Er plaudert über die Fortschritte seiner Bastelarbeit für das Halloween-Kostüm. Er wird sich als Topfpflanze verkleiden und die Kinder still und regungslos klingeln lassen. Den Rest kann man sich selbst ausmalen. Der Tag klingt dann bei Frederik zu Hause beim Grillieren aus. Natürlich darf das Bier dazu nicht fehlen. In einem ruhigen Moment prüfe ich online den Spielplan der Vancouver Canucks für die Saisonvorbereitung. Zu meinem Glück spielen sie morgen gegen die Calgary Flames. Schnell sind die Tickets gekauft und ausgedruckt. Jetzt bleibt nur noch zu hoffen, dass die vier Schweizer Legionäre in diesem Spiel auflaufen werden.

Am letzten Tag in Vancouver steht mein Fahrrad im Mittelpunkt. Soletta erhält eine längst fällige Dusche und die Montage der Schutzbleche nimmt auch einige Zeit in Anspruch. Dann noch die Kassette und Zahnkränze reinigen, bevor zum Schluss die Kette gebürstet und geölt wird. Kaum fertig spricht mich eine ältere, elegante Dame an. Sie schiebt ihr in die Tage gekommenes Rad neben sich her. Sie meint, dass ihre Schaltung etwas hart zu bedienen sei. Die Kanäle für die Schaltkabel sind mehrfach gebrochen. So muss ich ihr raten einen lokalen Fahrradmechaniker aufzusuchen. Nach einem längeren Schwatz wünscht sie mir alles Gute für die Reise und verabschiedet sich auf Französisch. Zurück im Zimmer gehe ich durch meine Habseligkeiten und versuche unnötige Gegenstände auszusortieren. Einige Geschenke von unterwegs packe ich gemeinsam mit kleinen Überraschungen für die Familie zu Hause in eine Schachtel, um sie in die Heimat zu senden.

Eine erfrischende Dusche später mache ich mich auf in die Stadt. Obwohl der Kilometerzähler über die letzten zwei Tage keine Änderung, ist mein Appetit nach wie vor unermesslich. Mein Verlangen nach rohem Fisch, lässt mich die nächste Sushi Bar ansteuern. Eine Frühlingsrolle und die ersten fünf Rollen Sushi verschlinge ich mit Hochgenuss. Doch satt bin ich noch nicht, drei weitere Rollen sollen dies ändern. Zum ersten Mal überhaupt koste ich Sushi mit Spargel und ich bin begeistert. Während die letzten Stücke in die Sojasauce mit einem Hauch Wasabi gedippt werden, bemerke ich eine freundliche Dame vor mir stehend. Cindy ist die Inhaberin von Urban Sushi und schaut mich mit ungläubigen Blick an. Es entwickelt sich eine spannende Unterhaltung. Einmal mehr lege ich meine elektronische Schreibmaschine zur Seite und will eine Begegnung auf meiner Reise ungestört erleben. Cindy kommentiert meine Erzählungen mit einer Floskel, die sich mir ins Gedächtnis brennt: “No guts, no glory”. Sie selbst erzählt mir von ihrem unerfüllten Traum, Brasilien. Ihr Restaurant will sie nicht in fremde Hände geben und steht sich so ihrem Traum selbst im Weg. Meine motivierenden Worte scheinen anzukommen. Ich hoffe einmal zu hören, dass sie sich ihren Traum erfüllt hat. Beim Verlassen des Restaurants schreite ich zur Kasse, die Bedienung lächelt mich an und meint es sei schon alles bezahlt.

Den Sonnenuntergang schaue ich mir vom Canada Place aus an. In der Ferne werden grosse Frachtschiffe mit Förderbändern beladen. Wasserflugzeuge starten im Minutentakt und die Vögel warten geduldig darauf, dass die Leute ihr Essen unbedacht liegen lassen. Es ist wie immer spannend das Treiben zu beobachten, doch dann muss ich mich beeilen, um rechtzeitig zum Canucks Spiel zu kommen. Frederik trifft wenig nach mir am Gate ein. Das heutige Vorbereitungsspiel gegen die alten Rivalen aus Calgary wird bestimmt amüsant. Am Vortag spielten die beiden Teams bereits in Calgary mit dem besseren Ende für die Flames aus der Ölstadt. Meine Hoffnung, einen der vier Schweizer zu sehen, ist relativ klein, als ich vor dem Spiel erfahre, dass alle im gestrigen Spiel eingesetzt wurden. So war es dann auch. Die Stimmung in der Arena ist während dem ersten Drittel eher bescheiden, trotz der frühen Führung der Heimmannschaft. Es ist deutlich zu erkennen, dass es sich um ein Vorbereitungsspiel handelt. Die Härte, das Kombinationsspiel und die Passgenauigkeit lassen zu wünschen übrig. Mit fortschreitender Spieluhr wird die Qualität des Spiels gemeinsam mit der Ambience deutlich besser. In der zweiten Drittelpause führt mich Frederik zum Essenstand an dem es die beste Poutine geben soll. Dieses kanadische Gericht bestehend aus Pommes Frites und Käse kann mit ganz unterschiedlichen weiteren Köstlichkeiten abgeschmeckt werden. Ich entscheide mich für eine Ladung Pulled Pork. Verfeinert wird das ganze noch mit einem Schuss Gravy. Frederik kann es kaum glauben, dass ich auf meiner ganzen Reise durch Kanada keine Poutine gegessen hatte. Ein solches Gericht mit all diesen Zutaten muss schmecken und so ist die Portion schnell verputzt. Das Spiel steht nach sechzig Minuten drei zu drei. Zum ersten Mal wird die Verlängerung mit nur je drei Feldspieler gespielt. Es ist sehr gewöhnungsbedürftig. Ich weiss nicht, ob es daran liegt, dass auch die Teams noch kaum Erfahrung damit haben oder einfach das halbleere Spielfeld mich verwirrt. Klar ist, dass man sich kaum einen Fehler erlauben kann. Ein riskanter Pass zu viel und die Flames verwerten einen Gegenstoss und siegen auch im zweiten Spiel gegen die Canucks. Damit ist die Stimmung in der Arena am Boden und der Abend ist gelaufen.

Früh geht es am nächsten Tag los. Nur wenige Minuten nach dem Start kommt mir ein Obdachloser mit leerem Blick entgegen. Ich halte an und reiche ihm meine Tüte mit aussortiertem Material, unter anderem einem Paar warme Socken, eine Mütze und zwei schwere Beutel Jelly Beans. Er greift in seinen Mantel und versucht etwas heraus zu ziehen. Ein kleines schwarzes Buch bringt er hervor, blickt zum Himmel empor und dankt dem Herrn. Ohne den Dank an seinen Vater im Himmel unterbrechen zu wollen, gehe ich meines Weges. Denselben Weg, welcher mich in die Stadt brachte, führt mich zurück zur Fähre. Die Fahrt hinaus ist jedoch einiges entspannter. Der Verkehr ist deutlich weniger und die Temperatur milder. Auf der Fähre von Tsawassen nach Vancouver Island bereite ich mich auf den Blutmond von heute Abend vor. Ein Artikel darüber wie man die besten Bilder vom Mond schiesst verkürzt die Überfahrt. Auf Vancouver Island gilt es dann nach Victoria zu radeln. Gut ausgeschilderte Radwege führen mich durch kleinere Ortschaften, vorbei an Kürbis-Felder und durch Alleen, wie aus dem Bilderbuch. In der Dämmerung erreiche ich das malerische Victoria. “Klick”, “Klick”, ein Bild nach dem anderen erscheint auf dem Display meiner Kamera. Gespannt warte ich darauf den roten Mond am Horizont aufgehen zu sehen. Leider warte ich vergeblich. Das Schiffshorn der Nachtfähre nach Port Angeles mahnt mich einzuchecken. Mit dem Fahrschein in der einen und dem Fahrrad in der anderen Hand werde ich am Zoll nochmals aufgehalten. Meine Antworten scheinen die Beamten zu verwundern. Die Befragung startet mit meinen Absicht über den Besuch der USA und endet mit freundlichen Wünschen für meinen Reise. Dann legt das Schiff ab und schon jetzt weiss ich, dass meine Vorbereitung auf den Blutmond vergebens waren. Denn ein Stativ auf einem schaukelnden Schiff hilft nicht allzu viel, wenn man scharfe Bilder von unserem treuen Trabanten schiessen will.

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