Die Nacht in Fort Stevens ist zu Beginn ziemlich turbulent. Denn, die Waschbären sind los. Ein Wanderer hat seine ungereinigten Kochutensilien stehen lassen. Die flinken und cleveren Tiere fallen im Rudel über alles her. Meine Tasche mit Essen befindet sich im Vorzelt. In der Hoffnung, dass ich erwache, falls sich die cleveren Kerlchen an der Tasche zu schaffen machen. Ich bin so erschöpft von der langen Fahrt, dass ich nicht mehr viel mitkriege. Am nächsten Morgen bin ich erleichtert, meine Tasche unversehrt vorzufinden. So steht einem leckeren Frühstück nichts mehr im Wege.

Bei einem Kaffee lerne ich Dylan, Nelly, Bryan und ihre Geschichte näher kennen. Allesamt starteten in der Nähe von Vancouver. Sie trafen sich einer nach dem anderen auf dieser Radreise. Das Schlürfen des dunklen koffeinhaltigen Heissgetränks weckt unsere Unternehmungslust. Gemeinsam gehts an die Küste, um ein gestrandetes Schiffswrack zu erkunden. Die Sandbanken um das Delta des Columbia Rivers liessen im Verlauf des letzten Jahrhundert so einige Barken auf Grund laufen. Wir klettern auf ein rostendes Stahlgerüst und geniessen die Aussicht über den Sandstrand. Wir schmieden den Plan für ein Barbecue am heutigen Abend. Dylan und Nelly verbringen den Tag am Strand. Bryan und ich ziehen in die Stadt um einzukaufen und die Gebräue der lokalen Brauerei zu degustieren. Zurück auf dem Zeltplatz wird mein relativ grosses Zelt Ziel des einen oder anderen Spruches. Schnell finden die drei eine neue Bezeichnung für mein mobiles Heim. Fortan wird mein Zelt als Penthouse mit Kronleuchter bezeichnet. Im Verlauf des Tages hat sich ein weiterer Radfahrer auf dem Zeltplatz eingefunden. John hat seinen Bürostuhl gegen den Fahrradsattel getauscht. Zuerst will er die komplette Westküste der Staaten herunter fahren, ehe er nach Südamerika fliegt und dort seine Reise in umgekehrter Richtung fortsetzen will. Während dem Grillieren am Abend kriegen wir des öfteren Besuch von den neugierigen Waschbären. Diese trauen sich immer wieder bis auf wenige Zentimeter an uns ran. In Teamarbeit versuchen wir die Viecher auf Distanz zu halten. Da es so ganz gut funktioniert und die Stimmung beim Essen ausgelassen ist, entscheiden wir morgen gemeinsam gegen Süden ziehen.

Die Bande:
Dylan ist der ruhige Typ aus dem Nordosten der USA. Immer wieder lässt er mal einen Spruch fallen, der den Nagel auf den Kopf trifft.
Bryan ist unser Philosoph, der vor lauter Kreativität sprudelt und äusserst belesen ist. Seine leichte Toll­pat­schig­keit bezüglich handwerklichen Dingen macht ihn nur umso sympathischer. Seine Wurzeln liegen etwas verstreut über den Westen und Süden der vereinigten Staaten.
John ist der Älteste im Bunde, doch der einzige der sich regelmässig rasiert. Was das wohl zu bedeuten hat? Vielleicht auch nichts.
Und Nelly, ja Nelly ist der quirlige Spassmacher aus Squamish, Kanada. Er sorgt dafür, dass es nur ganz wenige Momente ohne etwas zu Lachen gibt.

Der Start nach einem Ruhetag scheint allen etwas schwer zu fallen. Die kleinen Startschwierigkeiten jedes einzelnen kumulieren sich, sodass es eine ganze Weile dauert bis wir als Gruppe Fahrt aufnehmen. Doch schon bald werden wir wieder eingebremst. Auf den ersten Kilometern sind zwei platte Reifen zu beklagen und zwei Radtaschen fallen unter dem Fahren ab. Am Ende des Tages ist es nicht weiter verwunderlich, dass wir bloss etwas über dreissig Kilometer hinter uns gebracht haben. Es wäre einfach auch zu schade gewesen an Cannon Beach vorbei zu radeln. Wenig nördlich der Ortschaft liegt Crescent Beach, gut versteckt in einer Bucht. Die Fahrräder verstecken wir im Wald nahe des Trampelpfades. Kurze Zeit später befinden wir uns am wohl schönsten Strand Oregons. Der Sprung ins kühle Nass inspiriert uns, die Nacht hier zu verbringen. Die Taschen über den Waldweg runter und wieder hoch zu schleppen ist eine Plagerei und so packen wir nur das Nötigste ein. Ein Sonnenuntergang, wie aus dem Reiseführer sorgt für eine entspannte und ruhige Stimmung. Die Dunkelheit lässt uns ermüden, so richte ich meine Luftmatratze her. Im kuschelig warmen Schlafsack liegend, wirkt das Rauschen des Meeres wie ein Schlaflied. Die funkelnden Sterne werden langsam unscharf und das Rauschen wird immer leiser. So will ich noch viele Male einschlafen.

Das Erwachen ist ähnlich schön wie das Einschlafen zuvor. Ohne Hektik räumen wir unsere Sachen zusammen. Ein letzter ruhiger Moment, um die atemberaubende Aussicht auf den grossen Teich zu geniessen. Dann klettern wir mit Sack und Pack hoch zu unseren Rädern. Vor dem Markt in Cannon Beach verschlingen wir unsere Frühstücksmuffins, als sich Nelly ein Herz fasst und uns in Richtung Portland verlässt. Mit etwas gedrückter Stimmung fahren wir andern weiter. Zwei Aufstiege bringen uns zum höchsten Punkt der Oregon Coast Bike Route. Die Arbeit an den Hügeln wird mit weiten Ausblicken belohnt. Am ersten Aussichtspunkt verweilen wir kurz, während zwei Delphin in den brechenden Wellen herumtollen. Der erste grössere Ort, den wir passieren, heisst Tillamook. Einigen USA reisenden dürfte dies etwas sagen. Die Marke Tillamook findet sich im Eis-, Käse- oder Yoghurtregal jedes Supermarkts entlang der Westküste. Eigentlich war geplant sämtliche Geschmacksrichtungen an Eis zu versuchen. Leider mussten wir aufgrund der Häufung technischer Probleme umdisponieren. So ging es stattdessen zum Fahrradmechaniker. Als dann wieder alle Räder auf ordentlichen Reifen stehen, nehmen wir endlich richtig Fahrt auf. Im Verlauf des Tages sind die Wolken immer dichter geworden. Im Eilzug-Tempo geht es jetzt darum zum Cape Lookout State Park. Der Zeltplatz befindet sich im Wald, aber nur wenige Meter vom schönen Strand entfernt. Beim Abendessen unter der Laube treffen auf Anja und Radko. Die beiden sind in Anchorage gestartet. Es dürfte nicht bei diesem Zusammentreffen bleiben, denn die Beiden wollen es in einer ähnlichen Zeitspanne, wie ich, nach Ushuaia schaffen. Unsere Gespräche während dem Abendessen werden bloss von den aggressiven Waschbären gestört.

Der nächste Tag startet genauso grau und trist wie der letzte zu Ende ging. Die Wetterprognosen sehen nicht besser aus. Im Gegenteil, es soll drei Tage non-stop regnen. Eine Zusatzschlaufe am Morgen soll uns tolle Aussichten in Cape Meares bescheren. Die Küstenstrasse schlängelt sich durch Buchten und über einige Hügel. Es überholt uns eine Gruppe von Porsches, die Strecke dürfte für solche Ausfahrten sehr beliebt sein. In einer engen, abschüssigen Kurve passiert es. Mein Vorderrad beginnt seitlich wegzurutschen. Ich reagiere über und ziehe die Vorderbremse. Wenige Augenblicke später liege ich mitten auf der Gegenfahrspur und mein Rad drei Meter weiter. Der einzige Gedanke, der mir durch den Kopf schiesst ist: “Runter von der Strasse!”. Ohne an eine Verletzung zu denken springe ich hoch und lege mich neben der Strasse wieder hin. Zum Glück war der zweite unserer Radlergruppe mit genügend Abstand zu mir unterwegs und konnte rechtzeitig bremsen. Die Jungs nehmen mein Rad von der Strasse, während ich noch im Begriff bin, den Schock zu verdauen. Erst jetzt lässt es mein Körper zu, dass ich die Schmerzen spüre. Meine Augen habe ich noch geschlossen, als ich höre wie eine Passantin die Ambulanz anrufen will. Vor meinem geistigen Auge sehe ich schon die Rechnung mit einem fünfstelligen Betrag. “No ambulance! Just give me a moment.”, gebe ich meinem Umfeld meinen Willen zu verstehen. Mein rechtes Knie und die Hüfte ist etwas in Mitleidenschaft gezogen worden. Der grösste Impakt dürften jedoch meine Radtaschen erfahren haben. So bin ich, denn auch schon wenige Momente später mehr wegen des beschädigten Materials, als meiner Kratzer besorgt. In einem Restaurant ganz in der Nähe machen wir eine längere Pause. Dies gibt mir Zeit wieder runter zu kommen und die Wunden zu versorgen. Gestärkt mit einem reichhaltigen Brunch und wieder klar im Kopf gehts zurück auf die Strasse. Nach einem kurzen Abstecher zum Leuchtturm von Cape Meares, machen wir uns wieder auf. Keine dreissig Kilometer weiter südlich von unserem heutigen Startpunkt liegt Kiwanda. Der Surfort strahlt eine ordentliche Portion “Hang loose” aus. Wir fühlen uns alle ziemlich wohl und entscheiden hier unsere Tagesetappe zu beenden. Am Strand treffen wir auf Kevin. Der junge Kanadier ist ebenfalls mit dem Rad unterwegs. Wir staunen nicht schlecht über sein Gepäck. Drei Radtaschen und ein Surfboard nimmt sein Strassenrad auf. Gemeinsam gehts auf den Campingplatz nebenan. Nach einer wohltuenden Dusche, versorge ich die Wunde auf meiner Hüfte. Damit sich nichts entzünden kann beschliessen wir ins Restaurant der Pelican Brewing Company zu gehen. Dort desinfiziere ich mit innerlicher Anwendung von Malz und Hopfen. Es ist wohl eher mein angeknackstes Ego nach dem Sturz, was ich mit den Bieren behandle, als die erlittenen Wunden. Nach einem eher dürftigen Start, nahm der Tag doch noch ein versöhnliches Ende. Gemeinsam mit einer Geburtstagsgesellschaft schliessen wir die Bar ab.

Trotz der langen Nacht geht es morgens beizeiten wieder aufs Rad. Unsere Gruppe ist mit Kevin wieder auf fünf Radler angewachsen. John montiert seinen drahtlosen Lautsprecher und liefert uns den Soundtrack zur heutigen Fahrt. Um dem Verkehr für eine Weile zu entfliehen, entscheiden wir uns dem alten Verlauf des Highway 101 zu folgen. Durch saftig grüne Wälder schlängelt sich die Strasse hoch zu einem Pass. Das Best of Album von Led Zeppelin schallt aus John’s Lautsprecher. Dies gibt uns zusätzliche Energie. Die Stimmung in der Gruppe ist hervorragend. Ein Spruch folgt dem nächsten und jeder kriegt sein Fett weg. Nach dem kleinen Abstecher geht es wieder der Küste entlang. Es bieten sich uns die unterschiedlichsten Aussichten. Kurz vor Newport eröffnet sich uns ein traumhafter Anblick aus einer Bucht. Im Augenwinkel erhasche ich einen kurzen Blick von etwas weiter draussen im Wasser. Bryan und ich nehmen uns eine Minute, um Ausschau zu halten was es ist. Es dauert nur wenige Momente bis wir die Fontäne eines Wals entdecken. Wir betrachten das Schauspiel noch einige Male, ehe wir unseren Gefährten nach jagen. Ausserhalb von Newport finden wir uns alle auf einem Campingplatz ein. Das Abendprogramm steht schon seit gestern Abend fest. In der Rogue Brewery wollen wir das Sonntagabend Footballspiel schauen. Das Spiel ist für Dylan als New England Patriots Fan Pflicht. Bryan und John haben uns schon seit einiger Zeit von der Rogue Brewery vorgeschwärmt. So kommts zu einem ausgelassenen Sonntagabend mit Football und Bier unter Freunden. Bryan fasst den Tag passend zusammen: “This day was so great, I almost forgot, that I’ve seen a whale.” Zu deutsch: Der heutige Tag war so schön, dass ich fast vergas, einen Wal gesehen zu haben.

Zaghaft schauen wir am nächsten Morgen aus den Zelten und besprechen was wir wegen des miserablen Wetters machen wollen. Ausharren ist angesagt. Bei einer Regenpause packen wir zusammen und fahren mit einem Umweg via Leuchtturm ins Zentrum. Im Arctic Circle kehren wir auf Burger, Pommes und Milkshakes ein. Mein charmanter Versuch, aufgrund meiner langen Anreise vom “Arctic Circle”, mein Menu gratis zu kriegen wird leider mit einem Lächeln ignoriert. Das Wetter ist unberechenbar. Als das schlimmste vorbei zu sein scheint, schwingen wir uns wieder auf die Räder. Das Überqueren der hohen, weiten Brücke von Newport ist sehr abenteuerlich. Starke Windböen und ungeduldige Motoristen sind Schuld daran. Immerhin haben wir während der Passage keinen Regen. Doch weit kommen wir nicht. Nur wenige Kilometer weiter suchen wir in einem State Park Unterschlupf für die Nacht.

Nach gestern startet der Tag ähnlich mühsam. Mein Hinterreifen ist einmal mehr platt. Das dritte Mal diese Woche. Immerhin sitzen die Handgriffe und so hat meine Soletta innert wenigen Minuten wieder zwei pralle Reifen. Das Wetter ist nicht gerade traumhaft, aber alleweil gut genug für einen langen Tag im Sattel. Vormittags wird kräftig in die Pedalen getreten. Im Verlauf des Nachmittag reiht sich dann ein Highlight ans nächste. Das imposanteste ist Thor’s Well. Im Rhythmus der Brandung wird das Meerwasser durch ein Loch im Gestein gedrückt und schiesst mehrere Meter hoch in die Luft. Bryan ist von diesem Schauspiel so verzückt, dass er komplett die Zeit vergisst. Auf dem Weg nach Florence passieren wir viele kleine Buchten mit traumhaften Stränden. Als das Wetter aufklart, gönnen wir uns an einem solch traumhaften Strand eine Verschnaufpause mit Sonnenbad. Bei der Einfahrt in den Ort Florence ist es sehr ruhig. Auch in unserer Gruppe macht sich etwas Müdigkeit bemerkbar. Eine Dusche nach dem Zelt aufstellen hilft neue Energie zu schöpfen. Denn heute ist der letzte Abend mit Bryan, der uns morgen in Richtung Eugene verlässt. Zuerst gibts ein Bier und Essen beim Mexikaner, dann folgt die Nachspeise bei DQ. Dylan und Bryan überzeugen uns die Blizzards von Dairy Queen zu kosten. Das sind Milkshakes so dickflüssig, dass man sie für einige Zeit Kopf über halten kann ohne einen Tropfen zu verlieren. Passt man nicht auf und schlürft zu schnell, gefriert einem das Vorderhirn ein. Es ist einmal mehr eine lustige Runde mit den Jungs. Dylan und Kevin sind sich noch nicht sicher, ob sie morgen einen Ruhetag einlegen. Für John und mich ist es klar, dass es morgen weiter gehen muss. Wir erwarten beide Besuch in San Francisco. Mit vollgeschlagenen Bäuchen kugeln wir uns in die Zelte und schlafen zum Rauschen der See ein.

Bryan ist der erste, welcher sich am Morgen rührt. Als John und ich uns ans Frühstück machen, ist Bryan schon zur Abreise bereit und verabschiedet sich. Bevor er alleine auf die Strasse geht, machen wir zu fünft aus in fünf Jahren die Continental Divide zu fahren. Wer weiss, vielleicht kommt es wirklich dazu. Nach einem guten Frühstück ist es für John und mich soweit aufzubrechen. Die Gefolgschaft der Oregon Coast Bike Route zerfällt weiter. Denn Dylan und Kevin ziehen heute einen Ruhetag ein und werden uns hoffentlich in San Francisco wieder einholen. Für die nächsten zwei Wochen müssen wir im Durchschnitt 80 Kilometer am Tag zurück legen, um vor den Fliegern unserer Besucherinnen in San Fran zu sein. So legen wir einen Zahn zu und düsen an einigen Sehenswürdigkeiten vorbei. Einzig am Hall Lake legen wir eine kurze Rast ein. Ich lass es mir nicht nehmen und renn die hohen Sanddünen rauf. Der Weg hoch ist so atemraubend, wie die Aussicht von oben atemberaubend ist. Zum Glück geht für die restliche Fahrt ein leichter Rückenwind. Hundert Kilometer legen wir bis zum Abend zurück. Dementsprechend hungrig steigen wir von unseren Drahteseln. Wir haben beide kaum mehr Proviant, so müssen wir hungrig durch die Regale des riesigen Supermarkts streifen. Klar endet es damit, dass wir beide deutlich mehr kaufen, als eigentlich nötig. Hoffentlich sind wir für die langen Etappen der nächsten Tage nicht zu schwer beladen.

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